In: Ernst 21 „Werde leichter“ (2022)
Ein Mann tut nichts
Wenn wir zur Schule eilten, stand auf dem Platz immer ein kleines Männlein und starrte in den Himmel. Der zugeknöpfte Anzug, dem Winzling zu lang und zugleich viel zu eng, spannte sich über die Wölbungen seiner Wampe, seines buckligen Rückens und seiner fülligen Hüfte. Jeden Tag stand er auf dem Platz und tat nichts, als den Himmel anzustarren. Wir nannten ihn deshalb Himelgüegeli.
Die Arbeitsleute, die Bänker, die Beamten, die Bäcker, die Bummler liefen geschäftig an ihm vorbei. Er war nichtsnutzig, er war im Weg. «Schaut, da schlägt es wieder Wurzeln, das Himelgüegeli!»
Er stand da, wenn wir zur Schule eilten, wenn wir von der Schule zurück nach Hause eilten, wenn wir ins Büro eilten, wenn wir unsere Kinder zur Schule brachten.
Aber eines Tages stand das Männlein nicht mehr auf dem Platz. Und obwohl es nichtsnutzig gewesen war, brach eine Traurigkeit über den Platz herein, wie man sie nie zuvor gekannt hatte. Zum Trost sagte man sich, das Himelgüegeli habe seinen Anzug endlich aufgeknöpft, zu beiden Seiten ausgebreitet und sei dorthin aufgebrochen, wohin es so lang geblickt hatte.
Aus dem Buch «Langenthaler Wortgeschichten» von Alexander Estis, Kulturbuchverlag Herausgeber, 2021.