«Wir gingen aus der Kirche, hinein ins Dämmerlicht.»

Foto: Kaspar Eigensatz

Auch wenn Frank Keil kaum hinging, war sie da, die Kirche, überall und immer wieder. Da war Gebimmel, da war dieser Mohn mit seinen Rockern, Vaters Schuhe, der Tod – und eine Kinderbibel.

Gleich ist er tot, gleich wird er sterben. Das dachte ich immer wieder. Er kann nicht mehr entkommen, dafür ist es jetzt zu spät. Und der andere, der mit dem Speer, kann sich ruhig Zeit lassen, aber er sieht zornig aus, in Eile, er wird den Speer schleudern und nicht mehr warten, warum auch.

Auf Seite 88 ist das Bild zu sehen, es zeigt Absalom, einen der Söhne Davids, der sich gegen seinen Vater aufgelehnt hat; nun ist er auf der Flucht, sein langes Haar hat sich an einem Ast verfangen. Und er hängt über dem Boden, schwebt über dem Weg; sein Pferd, auf dem er eben noch so sicher im Sattel sass, galoppiert am Bildrand davon, niemand ist da, der ihm helfen könnte. Und er ist seinem Verfolger ausgeliefert, und sein Schicksal ist besiegelt.

Darunter finden sich zwei Zeilen, ich lese: «Ein Auge, das den Vater verspottet und verachtet der Mutter zu gehorchen, das müssen die Raben am Bach aushacken und die jungen Adler fressen.»

Ich bekam das Buch in der Schule überreicht, in einer der ersten Klassen: «Schild des Glaubens». Wahrscheinlich gab es mir Pastor Hübner, der kaum, dass er unsere Klasse betrat, ein gütiges Gesicht aufsetzte, als sei er der Herr persönlich, und der geziert mit einer leisen Stimme sprach, so dass wir ihn kaum verstanden, wenn er von Gott und dessen Herrlichkeit sprach; das Buch «Schild des Glaubens» versammelt auf 368 Seiten Geschichten aus der Bibel, dem Alten und Neuen Testament, Auszüge aus dem Psalter sowie Briefe der Apostel. Ich habe es immer wieder gelesen, wie ein Abenteuerbuch, wie meine Bücher über die Dinosaurier, wie Sven Hedin, wie Karl May. Ich fand es spannend, was erzählt wurde über Sodom und Gomorrha, vorher über Kain und Abel, dann über Joseph, den seine Brüder verkauften. Es ist viel Tod und Leid in diesem Buch. Ich war zehn, vielleicht elf Jahre alt, als ich es bekam; von nun las ich es immer wieder und betrachtete dazu die Bilder.

Ich habe es mitgenommen, habe es eingepackt, als ich von zu Hause auszog, entsprechend viele Jahre später, es hat auch danach alle meine Umzüge überstanden, immer wieder habe ich es in mein Bücherregal einsortiert, es ist ein Exemplar aus der vierundzwanzigsten Auflage, erschienen im Johannes-Stauda-Verlag zu Kassel, 1957 gedruckt und war also schon alt, war gebraucht, als ich es bekam, wer weiss, wem es vorher gehört hatte. Und vielleicht hätte ich es weitergeben müssen, an einen Schüler oder eine Schülerin in der Klasse nach mir, als ich die Schule wechselte, so wie den Diercke-Weltatlas, der vorher Frank-Peter Friedrich aus der Klasse 5b gehört hatte, wie der Schulstempel verrät und den ich gleichfalls behielt.

Am Anfang gibt es eine Art Vorwort, überschrieben mit «Liebes Kind!», das so endet: «Ob du nun andächtig die Bilder betrachtest, die dir das Wort vor Augen malt, ob du liesest oder lernst, so behüte dich Gott an Leib, Seele und Geist, dass du bewahrt bleibest zum ewigen Leben durch Jesum Christum unsern Herren.»

Ja, die Bilder, einfache Schwarz-Weiss-Illustrationen, starke Konturen, schwarze Linien, dazwischen viel Weissraum, Holzdrucken verwandt: Der erschlagene Abel liegt vor einem qualmenden Opferstock, ein Engel mit mächtigen Flügeln führt Lot aus der brennenden Stadt, der sterbende Isaak segnet seinen Sohn, Moses schaut das gelobte Land, bevor er für immer die Augen schliesst. Die Babylonier führen das Volk Gottes in die Gefangenschaft, und wieder brennt im Hintergrund eine Stadt, fallen Häuser um; der Engel erscheint Maria, der verlorene Sohn kehrt heim, Herodias bringt ihrem Mann auf einem Tablett das abgeschlagene Haupt des Johannes des Täufers, und sie lacht dabei, Jesus wird gefangengenommen, ist umringt von Männern mit brennenden Fackeln. Nur einmal habe ich eines der Bilder mit Buntstiften ausgemalt: Der Prophet Elias schaut grimmig gestimmt zu, wie das Volk Israel den Götzen Baal anbetet und um den Altar tanzt, auf dem der abgetrennte Kopf eines behornten Ochsen liegt. Elias trägt ein rosafarbenes Gewand, der Altar ist grün, der Kopf des Ochsen ist braun.

Meine Eltern gingen nicht in die Kirche. Ich weiss nicht, ob mein Vater gläubig war; ich weiss nicht, ob meine Mutter gläubig ist. Darüber haben wir in der Familie nicht gesprochen und sprechen bis heute nicht darüber. Ich denke aber, nein, ich weiss, dass mein Vater das Glockengeläut der Kirche in unserem Viertel sehr mochte, besonders am Sonntag vor und nach dem Gottesdienst, zu dem er nie ging. Denn gingen die Gläubigen zum Glockenläuten in ihre Kirche, die ich von unserem Kinderzimmerfenster aus gerade noch sehen konnte, wechselte er aus der Küche, wo er das Sonntagsessen bereitete, auf den Balkon, der nach vorne zum Parkplatz zeigte und putzte die Schuhe: die seiner Frau, die von uns Kindern, zuletzt seine eigenen. Erst abbürsten, dann mit der jeweils farblich passenden Schuhcreme einreiben, dann einen Moment stehen lassen, damit die Schuhcreme einzog, und dann alles glatt und glänzend mit einem alten Lappen einpolieren, begleitet von dem Geläut – dem «Gebimmel», wie meine Mutter sagte – der Kirche, die die Gemeinde nach dem Heiligen Markus benannt hatte und die heute aufgegeben und daher geschlossen ist. Und die Balkontür stand halb offen, es wehte kalt ins Wohnzimmer, wo ich auf dem Sofa sass und las, meine Abenteuerbücher, die mich in ferne Länder führten, etwa auf den Spuren des Apostels Paulus, durch Syrien nach Lykaonien bis hoch nach Thrakien und Mazedonien und wieder zurück übers Meer nach Jerusalem, auf seiner dritten Missionsreise, wie sie am Ende des «Schild des Glaubens» auf einer Landkarte verzeichnet ist, jede der drei Missionsreisen des Paulus kann man dort nachverfolgen, kreuz und quer durch die Länder des Mittelmeers, das hier noch «Mittelländisches Meer» heisst. Und als meine jüngere Schwester gestorben war und sie in einem anderen Stadtteil beerdigt wurde, weil es in unserem Viertel, das ein Neubauviertel war, auf der grünen Wiese hastig hochgezogen, um schnell Wohnungen zu schaffen, keinen Friedhof gab, denn die Leute, die hier nun wohnten, waren jung und ihre Kinder klein, da dachte man noch nicht an den Tod, das hatte noch Zeit, später. Als meine jüngere Schwester dennoch gestorben war, ging unser Vater zu der dortigen Kirchgemeinde, zu der der Friedhof gehörte und der ein alter Friedhof war, und er sorgte dafür, dass im Moment der Beisetzung und wir also aus der kleinen, schmucklosen Kapelle schritten, die Glocken anfingen zu läuten, dabei hatte er sie nicht konfirmieren lassen. Und die Glocken läuteten, lange und anhaltend, manchmal wie auf der Stelle tretend, bis der schmale, helle Sarg in die Erde gesenkt war. Sie war 14 Jahre alt geworden, und ich habe nie erfahren, ob sie an Gott geglaubt hatte, wenigstens an ihrem Ende.

Als ich 14 war, ging ich mit Markus Mohn in eine Klasse, dem Sohn des Pastors Mohn. Pastor Mohn war ganz anders als der dauerlächelnde Pastor Hübner, den ich schon erwähnt habe, sie könnten unterschiedlicher nicht sein: Pastor Hübner trug einen Anzug, Pastor Mohn trug Jeans, Schlosserhosen, wie meine Mutter damals dazu sagte. Und während die Leute über Pastor Hübner lachten, sich über sein Dauerlächeln lustig machten, hatte Pastor Mohn einen soliden, weltlichen und festen Ruf: Er war in der SPD, er war der «rote Mohn», selbst in der Zeitung wurde er so genannt, und einmal versuchte der Kirchengemeinderat ihn loszuwerden, ihn als Pastor abzusetzen, aber das gelang ihm nicht, die nächsthöhere Kircheninstanz hielt schützend ihre Hand über ihn und entliess ihn nicht, wenn ich mich recht erinnere. Und als ob das noch nicht reichte, dass der Mohn als Pastor in der SPD war und sich nicht der Politik enthielt, auch Wahlkampf machte für die SPD, am SPD-Stand in der Bahnhofsstrasse Broschüren mit dem Bildnis Willy Brandts verteilte, so war seine Tochter in der DKP, in der Deutschen Kommunistischen Partei, eine grosse, hübsche junge Frau mit langen Beinen und langen Haaren, eine Kommunistin. Und als ob es noch nicht reichte, dass Pastor Mohn SPD-Mitglied war und mit einem kommunistischen Kind unter einem Dach wohnte, in der rechterhand gelegenen Pastorenwohnung, auf Kosten der Kirche also, war er noch dazu der «Rockerpastor Mohn». Der am frühen Freitagabend den Gemeinderaum öffnete, der nun für einige spätwerdende Stunden «Jugendkeller» hiess, und wo ein Kicker stand, und wo es Bier in Flaschen gab. Und die Rocker kamen, auf Mopeds, auf Mokicks, auf Motorrädern, die sie vor dem Gemeindehaus aufbockten, nachdem sie nochmals ihre Maschinen hatten aufheulen lassen, als Zeichen ihrer Ankunft und ihres Daseins. Und während der rote Pastor Mohn sich nun darum kümmerte, dass die Rocker den Weg zu Gott fanden oder auf dem Weg ins Leben Gott zumindest nicht ganz verloren gingen, empörten sich die Leute darüber, dass einen Abend lang den Rockern der Gemeinderaum gehörte, dass die Rockermusik bis spät über die Strasse bis zur Bushaltestelle schallte und am Morgen danach hier und da Bierflaschen auf den Stufen zur Kirche lagen, ein oder zwei sogar zerbrochen. Und wieder so ein Zufall oder ein Zeichen, was das Gleiche sein kann, als ich viele Jahre später meine Eltern besuchte, nach oder vor dem Mittagessen zeitungslesend auf dem Sofa sass, stiess ich auf seine Todesanzeige: Er war ertrunken, der Mohn, vor der Insel Fehmarn, in der Ostsee, der Pastor, ein leidenschaftlicher Segler, wie aus dem Text neben dem Kreuz hervorging.

Und ich schlage wieder das «Schild des Glaubens» auf, das Papier ist längst gelblich, aber nicht brüchig, ich betrachte die Bilder, Jesus erweckt die Tochter des Jairus, die einen Blumenkranz im Haar trägt und die ihn erstaunt anschaut, als sie wieder lebt; Jesus legt dem von Geburt an blinden Bettler die Hände auf das Gesicht, Jesus geht über das Wasser, Petrus aber hat für einen Moment seinen sonst so festen Glauben verloren, droht zu versinken, hält sich an Jesus linkem Arm so fest es geht fest, die anderen Jünger schauen von einem Schiff aus zu; so also hat man sich das vorzustellen, stellte man sich vor, als man das Buch druckte.

Die erste Auflage des «Schilds des Glaubens» erschien 1941. Es wurde sogleich nach dem Krieg wieder aufgelegt und brachte es über die Jahre auf eine Auflage von 1,6 Millionen Exemplaren, bis es 1993 mit der 60zigsten Auflage eingestellt wurde, nachdem zuvor einzelne Abbildungen geändert werden mussten. Denn nun wollte man nicht mehr übersehen, was man lange übersehen hatte und was mir damals nicht aufgefallen ist, aber was mir heute auffällt: Das Buch zeigt in seinen Abbildungen stets einen bartlosen, ranken und hochgewachsenen Jesus, einen gänzlich nordeuropäischen Jesus; die Juden aber sind finstere Gesellen mit langen Bärten, grimmigen Gesichtern und oft leicht gebeugt.

Doch damals habe ich in dem «Schild-des-Glaubens»-Jesus, der mit seinen Erlebnissen verständlicherweise das Neue Testament bestimmte, immer nur den Langhaarigen gesehen, einen jungen Mann mit langen, offenen Haaren, einen Hippie. Und ich fand in den Abbildungen von Jesus, wie er gefesselt dem Hohepriester vorgeführt wird, der bald darauf wütend sein Hemd zerreisst, wie auch im Bild von Jesus, wie er in den steinernen Sarg gelegt wird, nachdem man ihn vom Kreuz abgenommen hatte, all die jungen, schmächtigen Leute wieder, die am späten Sonnabendnachmittag im Fernsehen im «Beatclub» zu schneller Musik sich schüttelten, dass ihr Haar in alle Richtungen flog und die mein Stiefgrossvater väterlicherseits sofort ins Arbeitslager gesteckt hätte, wenn es nach ihm gegangen wäre; mein Stiefgrossvater, der sein Haar stets nahezu kahlgeschoren trug und der bei der SS gewesen sein soll; wobei ich nicht weiss, ob es stimmt, «der war doch so klein, den hätten die doch bei der SS nicht genommen, die wollten doch grosse Männer», sagt meine Mutter immer, wenn ich auf meinen Stiefgrossvater und diese SS-Geschichte zu sprechen komme. Klein war er, ja. Drahtig, zäh, hager. Lagerleiter in einer Tischlerei hinter dem Fluss, am Deich. Wo sie in einer Werkswohnung wohnten, eine Stiege ging es hinauf bis unter das Dach, meine Grosseltern. Meine Grossmutter eine gläubige Frau; immer hingen Dürers «Betende Hände» als Kupferimitat an der Wand, zuletzt über dem Fernseher, rechts davon der Vogelbauer. Die, wenn wir vom Einkaufen, vom Spazierengehen zurückkamen, immer einen Umweg machte über den Kirchhof und den Friedhof, das erste Mal nach dem ersten Weihnachtsgottesdienst, an den ich mich erinnere und an dem Schnee lag. Und wir gingen aus der Kirche, hinein ins Dämmerlicht, und sie zeigte mir die Gräber, las die Namen vor und sprach aus, wie lange da einer gelebt hat, und ich überlegte, ob die Toten eigentlich frieren, wenn es um sie herum so kalt ist.