Ivo Knill formuliert ein Plädoyer für die schönste und schwierigste Sache der Welt.
Ich tue es, immer wieder. Jeden Morgen, sofern es die Zeit zulässt, und abends, wenn die Kraft noch reicht. Ich gönne es mir nach dem Tanzen, vor der Arbeit, im Zug und in der Beiz. Ich brauche dafür loses Papier, weggelegte Zettel, meinen «Grand Bloc», der immer auf dem Schreibtisch liegt, das Schreibheft, das ich in der Mappe habe, oder das kleine Notizbuch, das mit Handy und Portemonnaie in die kleine Umhängetasche passt.
Ich schreibe.
Ich schreibe und finde dabei mein Glück. Sogar meine Schülerinnen und Schüler stifte ich dazu an. «Schreibt!», rufe ich ins Schulzimmer und ruhig wird’s. Nur die Stifte hört man und sieht die in sich gekehrten Gesichter, hinter denen der Geist auf Reisen geht. Wir versinken ins Schreiben, und in Zimmerruhe gehen uns über dem Papier Welten auf.
Schreiben heisst, dem Innern ein Bild, eine Sichtbarkeit und einen Auftritt zu geben. «Schreibt und lernt euch kennen!», rufe ich. «Schreiben», sage ich in der Schulstube, am Tisch im Schreibhaus und beim Vortrag unter dem Kronleuchter, «Schreiben ist Meditation mit dem Stift.»
Und das mache ich jetzt.
Ich sitze und schreibe. Die Wörter werfen Wellen über dem Weltenmeer. Auf ihnen fährt ein Schiff heran. Der Wind füllt seine Segel. Das alte Holz knarrt, und das Schiff wiegt und schmiegt in die Wogen. Es schwankt, und der Mast, der tief im Bug verankert ist, schreibt in den Himmel hinein Wort um Wort den Bericht über die Grosse Reise zwischen Wolken, Wellen und Wassern, über denen die Götter ruhen. Ich aber sitze auf dem Schiff und schreibe meine Sätze weiter. Die Knoten lösen sich, die an meiner Brust ziehen, mir geht das Herz auf. Ich entspanne mich, denn ich halte fest und lasse los, was in meiner Welt passiert.
Ich erinnere mich an die Orte, an denen ich geschrieben habe: Ich sehe mich auf der Mauer über dem griechischen Hafen sitzen und spüre wie damals den Wind in meinen Haaren. Es duftet nach Harz und Meer. Ich höre den Kühlschrank brummen, während ich am wackligen Tisch mit einer Cola sitze und schreibe. Ich höre den Klang meines Stiftes auf der Tischplatte, die über zwei Böcken in meiner WG-Wohnung ruht. Ich sehe den Küchentisch vor mir mit farbig-gesprenkeltem Tischtuch, dem Glas Wein und dem Aschenbecher in Griffweite. Ich sitze und schreibe, ich rauche und sinne dem Moment des Glücks nach, der hinter mir liegt. Und jetzt, bei all diesen Erinnerungen, werde ich froh, denn vor mir entrollt sich eine Biografie des Glücks und der Geborgenheit.
Ich sehe den rund-ovalen ausziehbaren Tisch mit dem Wurzelholzmuster vor mir, der in der Stube stand, wo tagsüber die Kinder spielten. Die Tapete hatte uns nicht gefallen, also hängte ich ein weisses Tuch darüber, und daran pinnte ich Karten, auf die ich Zitate und Sprüche schrieb: «Demut ist keine Tugend», bei Ludwig Hohl gefunden. Die Tinte auf der Karte ist verblasst, aber die Erinnerung an das Schreiben an diesem Tisch ist wach, auch wenn ich nicht mehr weiss, was ich wohl geschrieben habe. Düster wird es gewesen sein, vermute ich, denn über viele Jahre setzte ich mich hin und schrieb, wenn ich es schwer hatte und wenn es drängte in mir. Ich schrieb, verloren und überfordert, das Tagebuch eines Vaters und vergass immer die Seiten des Glücks und der Leichtigkeit nachzuführen, denn das schien mir des Schreibens nicht wert, oder ich fand keine Zeit und hatte keine Lust zum Schreiben, weil das Leben in grossen Zügen lief. Aber jetzt, in der Erinnerung, wird zwischen den dunkeln Seiten im Tagebuch der helle Raum des Lebens sichtbar, den ich im Schreiben und Nichtschreiben durchmass, und ich bin glücklich, jetzt gerade, da ich dies schreibend so entdecke.
Schreiben! Ich muss schreiben, wenn ich leben will, ich muss mir das Leben aufschreiben, um nicht dumm und blind durch die Tage zu gehen, ich muss den Nebel des Augenblicks mit meinem Stift durchstossen wie einen Schleier, der mich sonst die Dinge nicht sehen lässt, wie sie sind. Ich schreibe über eine Person, die mich ärgert und merke schreibend, dass ich sie plötzlich verstehen kann, weil ich sie mit dem Stift in der Hand anders betrachte. Darum, darum und darum schreibe ich: Es geht um mein Leben, und ich rette es in jeder Sekunde und Minute, in der ich schreibe.
Es gibt eigentlich nur eine dumme Frage, nämlich:
Was schreibst du und wozu?
Wie kann ich wissen, was und wozu ich schreibe, wenn mir das Schreiben eine Reise mit offenem Ausgang, eine Safari mit unsicherem Fotoglück, ein Abstieg in unbekanntes Dunkel ist? Wovon erzählt einer in der Therapie? Wirklich nur von den Problemen? Aber wie soll er sich so denn selbst begegnen? Hat man schon einmal einen Jogger gefragt, wohin er rennt, wenn er letztlich doch immer nur nachhause rennt, auf langem oder weniger langem Umweg?
Schreiben ist eine absichtslose Tätigkeit, und sie genügt sich selbst, und das macht ihr Glück aus: Das ist das Glück, das ich finde, wenn ich den Stift zur Hand nehme und Buchstabe um Buchstabe meine Wörter aufs Papier bringe und ihnen folge mit keiner anderen Absicht, als ihnen zu folgen und dabei zu sein, wenn sie ihren Weg auf das Papier nehmen. Dazu reicht ein Stück Papier, der Kassenbon unter dem Bierdeckel und die unbedruckte Innenseite des Buches, das ich gerade lese.
Ich setze mich hin, ich schreibe, ich folge den Wörtern auf dem Papier und stelle mich der Frage, die da steht: Was aber ist Gott? Ich schreibe weiter und lasse mich von der Antwort überraschen: Nimm das Leichteste, was du finden kannst. (GrandBloc, um den dreizehnten August 2021). Ich schreibe und spüre meinem Gram nach, ich schreibe, und nach zwei, drei Sätzen steht der Saxophonspieler im Wald und spielt für die Hochzeitsgäste, die sich auf der Brücke versammeln. Sie gehen weiter und in meiner Erinnerung bleibt ihr glitzerndes Spiegelbild im Glanz des Instruments.
Das also ist das Manuskript, an dem ich sitze. Ich schreibe Tag für Tag. Nutzlos wie das Leben selbst, launisch wie die vergehenden Tage reihen sich die Seiten aneinander und stapeln sich in Büchern aus gesammelter Zeit. Oder ist es gestohlene, vertane, vertrödelte Zeit? Siri Hustvedt sagt: Alles, was geschrieben wurde, ist für jemanden geschrieben. Nur mein Schreiben dreht sich im Kreis und krümmt sich wie ein winziges Universum in sich selbst und baut sich ein Labyrinth, aus dem es selbst nicht mehr herausfindet.
Ja! So ist es, ganz genau: Mein Manuskript ist mein Labyrinth. Ich bin der Stier, die Jungfrau und der Faden, den sie entrollt. Entkommen kann ich nicht, weil es kein Draussen gibt.
Mein Manuskript ist meine Höhle, mein Bau, in dem ich mich schütze und verliere, wie es Franz Kafka in seiner grossen Geschichte vom Bau beschrieben hat. Dieser Bau ist jenes unterirdische Gebilde eines für die Welt blinden Schöpfers, der sich mit jedem Beben und Zittern, das von draussen kommt, nichts sehnlicher als die Welt wünscht, die er fürchtet. Mit Klauen und Zähnen gräbt er sich ein, Schatzkammern legt er an, in denen er in den Freuden des Besetzens schwelgt. Im Schwelgen aber wird ihm bewusst, wie bedeutungslos seine Schätze sind, wenn sie nicht gesehen werden, so dass er sich Zeugen und Gäste wünscht, die er, wiederum im selben Augenblick fürchten muss, da er vor ihnen blind und ohne Schutz wäre. Die Furcht, unentdeckt und alleine auf der Welt zu sein, hält sich mit zitterndem Zeiger die Waage mit der nackten Angst vor dem Entdecktwerden.
Ich und die anderen
Wer schreibt, steigt immer in unerforschte Gründe ab, muss immer durch Dickicht Wege finden, muss immer auf Neues gefasst sein und die Widerspenstigkeit der Sprache, der Wörter und des Textes meistern, ob es nun um eine harmlose Grusskarte geht oder eine Bewerbung, eine biografische Erinnerung, einen fiktionalen Text oder auch nur das absichtslose Notat zur freien Minute.
Vor dem leeren Blatt und dem blanken Bildschirm rettet uns niemand. Allein müssen wir unsere Wege gehen, weit draussen, wo niemand und nichts ist, da scheitern, mühen und reüssieren wir. Das ist es, vielleicht, was Franz Kafka in seiner grossen Geschichte vom «Bau» und Paul Nizon mit seinem Bild des in der hintersten Mandschurei schuftenden Soldaten sagen wollte, der Gräben aushebt für einen Krieg, den die Welt schon längst vergessen hat. Schreiben ist ein einsames Geschäft. Aber sind wir denn wirklich alleine damit?
Wir sind es nicht, denn da draussen sind ja Kafka, Nizon und alle anderen, die Mühe und Kraft, ja ihr ganzes Leben daran gegeben haben, ihre Manuskripte zu veröffentlichen. Als ich auf der Mauer über dem Hafen der griechischen Insel sass, war Max Frischs Homo Faber dabei. Ich sah in den im Wind um ihr Gesicht streichenden Haaren meiner Begleiterin Sabeth. Der Himmel über dem Schiff, das schaukelnd zwischen den Inseln fuhr, war auch der Himmel des Romans, in den ich lesend versank. Wenn ich mich frage, was aus all den vielen Seiten wird, die ich vollschreibe, dann denke ich an Friedrich Dürrenmatts Vorstellung jener Bibliothek, die alles fassen würde, was die Menschheit denkt und sehe die endlos sich verzweigenden Flure vor mir, die Dürrenmatt sich vorstellt. Ich trete mit ihm in die Zimmer und Säle, die sich wieder und wieder zu neuen Sälen öffnen, in denen Regal um Regal die Bücher stehen, die das Denken der Menschheit minütlich und sekündlich füllt. Ich habe meinen Aristoteles, den coolen Tristram Shandy, den frechen Voltaire, ich habe Kant und Platon, Walser, Kafka, Nizon und Erica Pedretti und Ruth Klüger. Ich gehe mit Saša Stanišić auf Herkunftsreise und verschwinde mit Melinda Nadj Abonji in der Dunkelkammer.
Ich habe Bücher, Geschichten und Texte, in die ich Eintritt finde. Sie umgeben mein Manuskript des Lebens als Landschaft, die sich weitet und mich befreit vom Kreisen um mich – und die zugleich dafür sorgt, dass mein Inneres ein Äusseres hat, das es trägt, umgibt und nährt, konfrontiert, herausfordert und in Frage stellt. Ich bin nicht alleine in meinem Bau aus Papier und Buchstaben.
Die Welt
Und doch: Nichts, was da draussen in der Welt ist, kann ich allein durch mein Schreiben verändern. Kein Schmerz löst sich einfach so auf, die Einsamkeit ergibt sich nicht in die Geborgenheit, kein Tod wird ungeschehen, nur weil ich sitze und schreibe. Aber ich habe da diesen Ort, wo ich mich zurückziehen kann, wo ich schreibend zur Ruhe kommen kann, wie andere in ihrer Kapelle oder im Wald, durch den sie joggen. Ich habe diese wunderbare Perlenkette all meiner Orte, wo ich geschrieben habe. Ich habe die Erinnerung und die Nachwirkungen an alle Momente, da ich Geschriebenes geteilt habe: Das macht mich so froh und lebendig, dass ich mir das für alle Menschen wünsche.
Es müsste darum, denke ich, genauso wie es Fussballstadien, Tennisplätze und Musikschulen gibt, öffentliche Orte für das Schreiben und Lesen geben. Es gibt die Industrie der Buchverlage, es gibt das Verlagswesen, das ist der Leistungssport. Dem Breitensport des Schreibens wünsche ich Schreibworkshops, Schreibzirkel, Schreibgruppen und Lesetreffen. Ich weiss, es gibt einige davon, ich hoffe, es werden mehr.
Denn:
Schreibt!
Das ist mein Appell.
Schreibt, und das Leben wird reicher!
Ivo Knill schreibt seit immer und unterrichtet es an einer Berufsmaturitätsschule und in unterschiedlichen Kursformaten. Vor drei Jahren hat er das Schreibhaus Burgdorf eröffnet, wo Schreibende ein Zimmer, einen Schreibtisch und ein offenes Ohr für ihre Texte finden.
Die Fotoserie zu diesem Beitrag entstand im Rahmen der Aufführung «Der Bau – Traduction en cours…» nach Franz Kafka. Regie führte Joëlle Valterio, Rolf Schulz spielte die Hauptrolle.
Franz Kafkas Erzählung «Der Bau» wurde im Jahr 1923 in Berlin geschrieben, sechs Monate vor dem Tod des Autors. Der unvollendete Text handelt von der Obsession eines Wesens für seinen Bau – für die Gänge und Plätze, die es in der Erde gräbt. Unersättlich und zwanghaft geht es wieder und wieder an die Arbeit – an sein endloses Werk. Ein immerwährendes Bauen und Verändern, Ausbessern und Reparieren, ein Nichtlassenkönnen, ohne Hoffnung auf Vollendung. Und währenddessen nähert sich der Feind.
«Der Bau – Traduction en cours…» ist ein Theaterstück nach dem Text von Franz Kafka in seiner Originalsprache (deutsch) mit einer französischen Übertitelung, die als Videoanimation ein wesentlicher Bestandteil der Inszenierung ist. Diese Inszenierung ermöglicht die Integration von zwei Sprachen und von zwei Interpretationen von Kafkas Text: eine durch das Schauspiel auf Deutsch und die andere durch die literarische Übersetzung ins Französische. Das Stück befasst sich auch – sozusagen zwischen den Zeilen – mit der Schwierigkeit oder gar Unmöglichkeit der Übersetzungsarbeit, aber auch von der gegenseitigen, kreativen Bereicherung der Sprachen.
«Der Bau – Traduction en cours…» nach Franz Kafka.
Regie: Joëlle Valterio
Schauspiel: Rolf Schulz
Fotos: Samuel Dématraz & Paul Walt
Petithéâtre de Sion – Les Scènes valaisannes – Januar 2014
Zeughaus Kultur Brig – Walliser Bühnen – Februar 2014