Alexander Estis in: Ernst 18 „Engagiert euch!“ (2021) 48f.
Ich bin nicht faul: Das sieht man schon daran, dass ich die Dinge durchdenke. Nicht immer bis zum Schluss, denn oft lenkt mich ein Gedanke ab. Ein wichtigerer. Ich laufe viel, bisweilen, und wer läuft, ist nicht faul. Faulheit heisst natürlich nicht, auf dem muffigen Sofa eingehüllt in Plüsch die Glieder erschlaffen zu lassen. Und erst recht nicht, zeitgemäss gepflegt zu chillen; das muss kolossal lässig und daher angestrengt sein. Nichts zu tun haben, mit anderen Worten, ist keine gute Faulheit; noch weniger – nichts tun zu wollen. Ohnmächtige Tachinose, hypnotische Apathie, melancholischer Müssiggang, nihilistischer Spleen, Dekadenz obszöner Untätigkeit; stumpfer Phlegmatismus, nachmittägliches Pfeifenpaffen, liegestühliges Sichnichtdanachfühlen, dummdreistes Verpissertum – alles inferiore Faulheiten. Mag Italien so weit vom alten Rom entfernt sein wie das dolce far niente vom ciceronischen Otium: nirgends findet man zwischen den beiden dasjenige, was ich wahre Faulheit nenne.
(Man halte das nicht für Ausreden – ich wollte durch spitzfindige Unterscheidungen mich ausnehmen: Es gibt echte Gründe. Obwohl, gewiss, auch die Rechtfertigung, die Apologie, die Ausflucht, das Sophisma gehört zum Repertoire des Faulen. Viele sagen: Ich bin nicht faul, ich bin Philosoph. Aber die haben überhaupt keinen Begriff von der Sache. Nur dass sie leugnen, ist richtig. Man muss immer leugnen. In der Schwebe des Paradoxen, in der Aufzählung verbleiben. Und dann einfach nichts mehr dazu sagen. – Wer aber geradehin behauptet, er sei faul, der ist ein ganz verlorner Fall. Der will Faulheit einfangen wie Finsternis in eine Flasche. Will sie begrenzen, der arme Trottel, will sie domestizieren. Will sie planen. Will sie vielleicht sogar fälschen, will fleissig gelten. Ach, das ist ganz vulgär!)
Schwache Menschen kennen keine grosse Faulheit; ihnen fehlt, woran sie überhaupt einen Sieg erringen könnte. Die Faulheit ist eine Kraft, die mit dem Willen in Widerstreit tritt, mit ihm Krieg führt. Nur der grosse Wille bildet sich grandiose Faulheit heran. Ich muss wollen: eine Expedition, einen Hausbau, einen Marathon, mindestens einen Roman. Und noch dann muss man einiges tun, um eine Faulheit von höherem Wert zu liefern. Halb noch im Begriff zu handeln, aber nur halb, zur Hälfte schon im Nachlassen begriffen, allen Versuch opfernd dem Vielen entgegentrauern, was nicht passieren wird. Nach und nach muss man sich zur Faulheit entschliessen, bei vollem Bewusstsein, mit aller Verantwortung ihr die Überlegenheit zuerkennen, die eigene Lebensluft mit diesem Entschluss anfüllen und darauf beharren.
Im Talmud steht – ich habe es nicht überprüft: Aus der Faulheit ersteht ein Golem. Aber schon die Faulheit muss man sich erschaffen, muss sie züchten wie einen Farn. Die Farne sammeln ihren Geruch in der Nacht, während sie eingedreht sind, wachsen in sich hinein, und zum Morgen entfalten sie langsam ihre Blätter und senden ihren modrigen Duft aus. So muss man die Faulheit in der Tiefe aufkeimen lassen, behutsam sie nähren, aus den innern Organen, aus den Nieren sie vorsichtig in kühl rieselnden Strömen führen bis an die Haut, bis an die Poren, und sie endlich freigeben, eine Epiphanie der Unvernunft, ein Triumph