Alexander Estis. In: Ernst 19/20 „Manuskript“ (2021)
Schreiben, ohne zu kürzen, ist möglich, aber nicht gut; kürzen, ohne zu schreiben, ist gut, aber nicht möglich. Ein Bericht. In gekürzter Fassung.
1. Endlich mein Romanmanuskript abgeschlossen. Welche Erleichterung. Nun zum Verlagslektor damit, was so viel heisst wie zum Teufel.
2. Der Lektor liest noch. Die Anspannung ist kaum zu erdulden. Wie soll ich mir die Zeit verkürzen? Etwas Neues beginnen ist unmöglich.
3. Lese «Krieg und Frieden».
4. «Krieg und Frieden» samt Kommentar ausgelesen. Lektor schweigt.
5. Nachricht vom Lektor, ich solle zu einem Gespräch erscheinen. Kaufe mir Anzug und Hut.
6. Der Lektor sagte, es sei ein bemerkenswertes Manuskript, ich solle allerdings kürzen, mindestens um ein Drittel. Oder, setzte er mit einem diabolisch-schalkhaften Lächeln hinzu, besser auf ein Drittel.
7. Ich lese das Manuskript meinem Sohn vor: Fast jedes Kindermärchen, das ich ihm zur Nacht vorlese, befindet er am Ende für zu kurz.
8. Mein Sohn hat nichts gesagt; mitten im Prolog musste er zur Schule.
9. Heute mit dem Kürzen angefangen. Stellte bei kritischer Lektüre fest, dass die detailverliebten Beschreibungen ohne jedweden Schaden entfernt werden können; strich sie.
10. Eine der Hauptfiguren, der Friseur Holger, den alle «Professor» nennen, ist furchtbar geschwätzig. – Habe Holger in den letzten drei Tagen zu einem wortkargen, mürrischen Eigenbrötler gemacht, den alle «Prof» nennen.
11. Heute wollte ich einige philosophische Abschweifungen herauswerfen, geriet dabei jedoch ins Grübeln und schrieb vier Seiten hinzu.
12. Wüsste nicht mehr, was kürzen. Mein Sohn sagt: Nimm doch alle bösen Menschen aus dem Buch raus.
13. Gestern hatte ich eine Inspiration und erreichte ein Drittel.
14. Warte auf Mitteilung; wieder Unruhe.
15. Frage einen Freund, der als Romanautor ausserordentliche Erfolge feiert, wie er kürze. Er verrät mir im Flüsterton, er habe dafür eine ganz spezielle Strategie: Die Partien, die er später kürzen werde, baue er schon von Anfang an bewusst in seine Texte ein; daher wisse er später ganz genau, was er streichen müsse.
16. Gespräch mit Lektor. Er sagt, ich solle noch deutlich stärker kürzen. Beim Wort «deutlich» schiebt er seine Brille mit dem Zeigefinger nach oben; ich muss es also ernstnehmen, todernst, denn mit der Lektorenbrille ist nicht zu spassen. Nach diesen Worten lacht der Lektor, ebenso ansteckend wie perfide.
17. Setze die Kürzung fort. Jetzt geht es an die Substanz.
18. Konnte die Nacht nicht schlafen, kämpfte mit empfindlichen Zweifeln, fluchte im Halbschlaf: Ich wollte die Worte des Lektors todernst nehmen; hatte er aber nicht gesagt: stärker? Heisst stärker nicht, dass man bereits stark gekürzt haben müsse, um nun sogar noch stärker zu kürzen? War meine Kürzung aber überhaupt schon stark? Oder war sie eher gewöhnlich, durchschnittlich, ja sogar mittelmässig?
19. Habe meinen Sohn zu seiner Mutter gebracht, um diese Verstrickung ungestört entwirren zu können. Schlafe nur noch vier Stunden, esse einmal am Tag.
20. Erst heute erinnerte ich mich an die Bemerkung des Lektors, es sei besser, auf ein Drittel zu kürzen. Ich sollte also auf ein Drittel kürzen, und danach noch stärker, und zwar deutlich.
21. Gehe ans Werk. Ich kürze nunmehr ganze Ereignisse, ganze Stränge der Handlung, ganze Figurengruppen. Holger fällt der Kürzung zum Opfer. Streiche den Prolog, lasse das Ende offen. Der Roman erhält postmoderne Leerstellen.
22. Nur noch ein Drittel ist übrig. Jetzt kann man die Kürzung stark nennen, das scheint unzweifelhaft; ich kann mich also reinen Gewissens daran machen, noch stärker zu kürzen.
23. Habe den Kern der Geschichte herausgeschnitten und den Protagonisten entfernt: Das macht die Kürzung stärker. Aber deutlich stärker soll sie werden. Ich muss alle Entwürfe tilgen und jegliche Vorarbeit und vieles andere mehr.
24. Verbrenne alle früheren Werke; das kommt der Kürzung zugute. Fühle mich durchaus befreit, möchte aber nicht dabei stehenbleiben.
25. Merke immer mehr, wie viel man noch kürzen kann.
26. Gehe zum Friseur und zum Schneider. Halbiere die Unterhaltszahlungen für meinen Sohn. Beschränke meinen Wirkungsradius und entferne mich nicht weiter als zweihundertsiebzig Zentimeter von meinem Bett.
27. Heute kürzte ich die Dauer der Tage um acht Stunden, der Tag dauert nur noch sechzehn. Ferner kürzte ich auch die Stunden.
28. Ein paar Minuten vor Mitternacht, um fünfzehn Uhr dreiundzwanzig, fiel mir ein grandioser Irrtum ein: Zwar hatte ich die Entwürfe vernichtet und alle Vorarbeiten zu meinem Roman, doch wusste ich ja noch darum, und wusste sogar noch von deren Inhalt. Ausserdem war ich jawohl selbst, als Person, gewissermassen eine Spur des Romans. Die Kürzung war also längst nicht vollkommen, der Lektor würde mich über die Brille hinweg anschielen und mich auslachen, ganz ohne Frage, in lautestes Hohngelächter würde er ausbrechen. In Furcht und Verzweiflung radierte ich die gesamte Erinnerung aus und zuletzt meine ganze Existenz. Dieser Bericht ist das Einzige, was blieb.
Bild: Jo!lle Valterio