Ernst 22 „Helden“ (2022)
Während die Sonne im dunklen Abendhimmel unterging, verschmolzen ihre Lippen zu einem Kuss leidenschaftlicher Liebe. Er drückte ihren Körper mit seinen starken Armen an sich, aber plötzlich stand alles still.
Was ist passiert?, fragte er sich, wie komme ich hierher? Bin ich gefangen in diesem kunstlosen Klischee? Steckengeblieben in dem unfertigen Roman eines talentfreien Dilettanten, lebendig eingeschlossen in eine Schublade für einen qualvollen Tod in der Anonymität? Oder ende ich, Protagonist eines Probekapitels, im blutrünstigen Schredder des Lektors?
Bin ich gar, noch schlimmer, das wertlose Produkt einer unvollendeten Aufgabe im Schreibkurs? Oh, ich Armer, nur dies nicht, nicht dies! – Aber doch besser dies, als wenn ich allein in einer nunmehr verworfenen Fassung Raum hätte, entthront, entrechtet, ersetzt durch eine bessere Version meiner selbst …
Wer schrieb mich ein in diese verzweifelte Existenz ohne Ziel, wer band mich an diesen Beginn ohne Fortgang? Verlieh mir das Potential zum Konflikt ohne die Möglichkeit der Entwicklung? Gab mir das Vermögen zu fragen, doch nicht zur Erkenntnis? Ein arglistiger Fragmentarist, der bewusst abreisst mittendrin? Ein poststrukturalistischer Collagist, der mein Leben zerschnippelt und verklebt mit, was weiss ich, den Memoiren eines redenden Katers? Ein möchtegernmisanthropischer, sich ironisch gebärdender Kurzprosaist, der in rhetorischer Hybris vermeint, einer Biografie ganze Tragik mit nur vierzig Wörtern einfangen zu können? Bin ich das Opfer eines moralisierenden Pseudoäsops, der skrupellos meine Misere missbraucht für eine wohlfeile Parabel auf das Drama des Menschseins? Oder spiele ich unfreiwillig den Narren nach der Pfeife eines verbitterten boshaften Satirikers, der sie alle nur parodiert?
Welch eine Perfidie! Warum nur bin ich nicht Herr meines Schicksals, nicht Bestimmer meiner Bestimmung? Warum nur bleibt meine Charakterzeichnung blass in eben dem Masse, in dem sie mich abhält, mich zu entwickeln zu einer vollgültigen Individualität, warum bleibt der Umriss meiner inneren Welt so beschränkt, dass er mich hindert, auszubrechen aus dieser Beschränkung? Derart unprofiliert, bin ich in dieser Welt – oh, das wäre das Ärgste! – womöglich nicht einmal der Protagonist?
Alexander Estis, Fragmentarist, Kurzprosaist und boshafter Satiriker. Schreibt u. a. für ZEIT, WOZ, NZZ und den «Tages-Anzeiger». Zuletzt erschien sein Kurzprosaband «Legenden aus Kalk» bei der Parasitenpresse Köln.