Ivo Knill fährt mit dem Zug durch Land und Zeit und begegnet den Männern, unter deren Blick er Kind war.
In ERNST#4, „Alles ist gut“, 15.12.2017, Das Innerste
Ich sitze im Zug und fahre durch die Herbstlandschaft. Der Himmel ist klar. Gläsern. Schwarz stehen die Stämme im lichter werdenden Blätterkleid. Der Wagen, in dem ich sitze, gehört in jene Zeit, als alles solid gebaut war. Hosen, Anzüge, Jacken trug man täglich dieselben, Türen waren massiv, Häuser aus Stein gebaut. Wenn man Geld überwies, bekam man einen Stempel in ein gelbes Buch. Die Dinge hatten ein Gewicht, eine Materialität, die sich einem widersetzen konnte: Mit Kraft musste man am Lenkrad drehen, um ein Auto zu parkieren. Formulare mussten mit Druck ausgefüllt werden, damit die Schrift blau auf dem gelben und dem blassrosa Durchschlag zu lesen war. Und die Fahrkarte kaufte man am Schalter: Der Beamte steckte das Billett mit dem Wechselgeld in eine Drehscheibe, die unter dem Glas angebracht war, hinter dem er stand. Man setzte sich auf die harten Bänke im Wartsaal, der meist überheizt war. Man trat auf den Perron, wenn die Schläge der Signalglocke und die krachende Stimme im Lautsprecher das Kommen des Zuges ankündigte, man musste sich an der Stange festhalten, um die Stufen zum Inneren des Wagens zu erklimmen, man musste mit Kraft die Türe zum Abteil öffnen. Dann setzte man sich.
Der Zug fährt ab.
Im Sommer zieht man die Scheibe mit aller Kraft herunter und hält den Kopf in den Fahrtwind. Die Arme streckt man hinaus im Wissen, dass die vorbeisausenden Masten einen nicht erreichen können – aber ein Kitzel der Gefahr bleibt, und der dauert so lange wie die Fahrt zwischen zwei Stationen. Ewig. Immer. Gras am Wiesenbord, Haselnussstauden, das Tanzen der Masten. Die Hand steigt auf, lässt sich vom Fahrtwind in die Höhe heben, die Hand surft im Wind, die Hand ist ein Fisch, der durchs Wasser schnellt, die Haare balgen sich im Wind, der Atem verschluckt sich, die Scheibe klemmt unter der Achsel, aber das Spiel kann nicht aufhören.
Jetzt ist es Herbst.
Die Sitze stehen so, dass man aus dem Fenster schauen kann, über den grün oder rot gestreiften Sitzen gibt es viel Platz für das Gepäck und den Hut oder den Mantel, den man auf der Ablage versorgen kann. Ich sitze im Zug. Der Wagen schaukelt und ruckelt leise, die Scheibe zittert.
In den anderen Abteilen des Wagens sitzen jetzt die Männer, unter deren Augen ich aufwuchs und um deren Körper ich mich bewegte. Sie haben müde, harte Gesichter. Ich sehe den jähzornigen Lehrer in seinem braunen Anzug, der uns die verbundene Schrift beigebracht hat. Er hat uns das staubige Dorfrelief erklärt und beim Werken hat er geraucht. Er schaut am Mann im blauen Nylontrainer vorbei, der immer in der Stube beim Fernsehen gesessen und gehustet hat. Neben dem Milchmann steht der glänzende Milchkessel, aus dem er für uns vier Liter geschöpft und ebenso viele Milchmarken aus dem Milchkessel genommen hat. Der Doktor mit der grossen Nase, der mir Buchstaben gezeigt hat, schaut aus dem Fenster. An den Gummistiefeln erkenne ich den Pöstler, der im Winter durch den Schnee gekommen ist, wenn wir draussen spielten. Er sitzt neben Abwart Jäger. Sie sind alle da. Sie sind alle müde. Der Wagen schaukelt.
Halt auf Verlangen.
In einem anderen Waggon ist ein Mann ausgestiegen. Er trägt einen Hut, sein Gesicht leuchtet in den Strahlen der Abendsonne auf, er eilt mit leichten Schritten die Treppe zur Strasse hinunter. Der Zug fährt wieder an, der Bahnsteig, die Rampe der Fabrik auf der anderen Seite bleiben zurück, die Sonne scheint einen kurzen Moment in die Abteile.
Die Männer sprechen, alle gleichzeitig. Der Geografielehrer weiss plötzlich etwas von der Welt. Abwart Jäger berichtet von Steinpilzen, die er gefunden hat. Der Mann im blauen Trainer rennt mit erhobenem Pantoffel zwischen den Bankreihen hin und her und ruft: Ich fasse dich! Der Milchmann spricht vom Sennen und Sömmern und Käsen. Einer hat als Kind eine Grube gebaut, in der er Bären fangen wollte und schliesslich eine Kuh fand. Sie erzählen sich die Geschichte ihres Lebens. Ihres Aufstiegs. Ihrer Abenteuer. Dass man als Katholik keine Stelle als Lehrer findet, beinahe nicht, jedenfalls. Wie man im Gemeinderat Geld und Posten verteilt. Der Pöstler hantiert mit dem riesigen Stempel.
Heute rechne ich mir aus, dass diese Männer meiner Kindheit damals um die fünfzig waren. Wenn sie das waren, dann hatten sie auch den Lärm von Fliegern über dem Bodensee gehört und die Berichte über den Mann mit seinem hässlichen Schnäuzchen, der ein ganzes Land in den Wahn und die Welt, in der die Männer Kinder waren, in den Untergang führte. Sie hatten als junge Männer in Waffenröcken Wache geschoben, in raschelnden Zeitungen und knisternden Radios ferne Nachrichten gehört: In ihren Gesichtern las ich es, immer, wenn sie schwiegen. Das war das Dunkle, das die Männer in sich trugen, in deren Gegenwart ich gross wurde.
Die Männer sind ausgestiegen. Ich fahre alleine weiter.
Aber ich bin nicht alleine.
Schweiss rieche ich, Schweiss von Arbeit. Ich rieche den Staub von Kreide, ich rieche das starke Vertreterparfüm, nach dem Leder von Mappen riecht es, die unter dem Arm getragen wurden und Mottenkugeln haben sich in die Kleider eingeduftet. Ich spüre etwas vom herben Geschmack des Biers, das ich aus leeren Flaschen probiere, wenn die Bauarbeiter auf den Kisten sitzen und «Cinque» spielen, ich lehne meinen Kopf an die Scheibe, die im Fahrtwind zittert und ich höre etwas von den Stimmen und Geschichten dieser Männer.
Inzwischen ist es Nacht geworden.
Ernst-Redaktor Ivo Knill nähert sich in der Rubrik «das Innerste» schreibend dem Kern der Dinge.
Bild: Simon Bretscher