Ivo Knill, Juni 2024

Am 11. März 2018 starb Franco. Nach seinem Tod, noch in Japan, schrieb ich Erinnerungen an auf, die sein Tod auslöste: Wie wir im Kubel an der Sitter zum Familienpicknick fuhren, die rot-schwarz karierte Wolldecke im Kofferraum des Dodge. Wie die Holzbrücke klang, wenn ein Auto über ihre Bohlen fuhr, wie Bernhard Disteln köpfte, um die «Ohrschlüpfer» zu töten, die darauf wimmelten. Im ERNST-Magazin schrieb ich über die Zeit in Japan, die mich zum Trauern einlud. Ich schrieb über den Ärger, der kommt, wenn die Trauer vorbei ist. Denn die grossen Gefühle fliessen ab, zurück bleiben die Kanister des Ärgers, die sie herangespültgespült haben. Im Herbst nach Francos Tod schrieb ich eine Serie von Kurzgeschichten – jetzt führe ich sie im Buch «Der Himmel meines Bruders» zusammen.

Im Schreiben wohnen

In den Jahren nach Francos Tod habe mich diese Texte begleitet. Ich wollte sie in eine Form zu bringen. Ich überarbeitete sie, verwarf die Überarbeitungen wieder, nahm sie wieder hervor. Ich wälzte die Geschichten wie Treibholz unter Wasser. Ich kam nicht voran, strich weg, was das eigentliche Zentrum der Texte war, kehrte zur Urfassung zurück, änderte sie wieder und wieder zurück. Um Ordnung zu schaffen, druckte ich die Texte aus. Ich kaufte eine 1.8m Breite Rolle aus Wellkarton, schnitt eine Bahn von 10 Metern, entrollte sie im Tanzraum  und pinnte die ausgedruckten Texte an diese Wand.

Im Innern dieser Textrolle hatte ich ein Tischchen und konnte mich weiterschreibend im Gehäuse dieser Texte zurückziehen. Wieder und wieder habe ich diesen Schreibraum aufgebaut. Ich habe darin gewohnt, gedacht, Siesta gemacht, weitergeschrieben und habe meinen Freundinnen und Freunden aus den Texten vorgelesen.

Francos Fotos

Schon bald nach Francos Tod hatten wir die Idee, eine Ausstellung mit seinen Bildern zu veranstalten. Corona kam mehrmals dazwischen – es wurde 2022, bis wir die Ausstellung im Otto Bruderer Haus machen konnten.

Im einen Raum stellte ich Francos Fotos in einer Fibonacci-Spirale aus Wellkarton aus: Ihr Zentrum war der Januar, Francos Geburtsmonat, und sie öffnete sich zu den Sommermonaten, die in der Rückseite wieder zum Dezember und Januar führten. Im zweiten Raum las ich zu jeder Stunde der Öffnungszeiten meine Kurzgeschichten. Auf den Stühlen und Bänken im Ausstellungsraum nahmen Freunde von Franco, Freunde von mir, Bekannte, Familienangehörige Platz. Ich las, wir sprachen eine Weile, es gab eine Pause, bis ich die nächste Geschichte dran war. Dieses Lesen, Zuhören und Miteinander Sprechen war tröstlich und schön. Manchmal sprachen wir über Franco, manchmal über den Tod, oft über das Leben und seine Skurrilitäten.

Beim Aufbau der Ausstellung pinnte ich Foto um Foto aus Francos Serie an den Wellkarton. Es war mühsam, denn Francos Nummerierung auf seiner Liste und auf den Bildern stimmte nicht immer überein. Die Fotos waren durcheinandergeraten, es gab Lücken, doppelte Bilder. Ich blieb dran, stach die Nadeln durch die Fotos in den Karton und in meinen Finger, wenn ich nicht aufpasste. In einer Fototasche waren die die Einzelbilder nicht nummeriert. Ich nahm den wasserfesten Filzstift und schrieb sie an. Als ich die Fotos vom Stapel nahm, stellte ich fest, dass der Filzstift auf die nächste Fotografie durchgedrückt hatte. Ich ärgerte mich. Ich  öffnet die nächste Fototasche, roch den Nikotinduft, der in allem steckt, was aus Francos Wohnung ist. Ich pinnte die Fotos auf und bemerkte: Auch bei ihm hatte der Stift diese Abdrücke hinterlassen. Ein grosses Loslassen, ein unermesslicher Trost erfasste mich. Ich fühlte mich Franco nah, fühlte mich ihm verbunden wie früher, wenn ich mit ihm etwas bastelte, baute und schaffte oder die Fotos in der Dunkelkammer belichtete.

Mit der Trauer gehen

Jetzt sind sechs Jahre seit Francos Tod vergangen. Was ist in diesen Jahren passiert? Habe ich Trauerarbeit geleistet? Worin bestand sie? Was waren die entscheidenden Momente, was war der Sinn, der Ertrag?

Ich habe an Francos Abschiedsfeier mit dem Freund getroffen, der ihn gefunden hat. Er kam wieder an die Ausstellung, noch immer war eine Wut in ihm über Francos ungeheure Zumutung, dass er, der Freund, ihn vorzufinden musste. Mochte Francos  Inszenierung ein letzter Versuch gewesen sein, seinem Abgang einen Sinn und eine grosse Geschichte zu geben – der Anblick seiner baumelnden Leiche war eine nicht zu ertragende Zumutung. Den Freund hatte sie unmittelbar getroffen. Mich als Bruder erschütterte der Tod über Jahre.

Was habe ich getan, um mit dieser Erschütterung zurechtzukommen? Ich habe weitergelebt, aber ich musste unter die Oberfläche meines Lebens hinabsteigen, ich musste über die Rändern meines Alltags hinausgehen. Ich musste graben, verschütteten Schmerz freilegen, Schutt beiseite tragen, Trümmer wegrollen und hoffen, dass sich neues Leben an diesen freien Stellen regte. Ja, es war ein grosser Abstieg ins Unbewusste, in vergessen geglaubten Schmerz, aber meine Arbeit hätte genauso gut darin bestehen können, eine Weile lang jeden Tag Francos Grab aufzusuchen, nach den Blumen zu schauen, zu sehen wie Schnee auf den Grabstein fiel und zu spüren, wie ihn die Sonne im Juli wärmte. Meine Arbeit war, meinen Schmerz und meine Verlorenheit zuzulassen, weiterzutragen – und zugleich meine Wege durch meinen Alltag  zu gehen, aber dafür musste ich seinen Tod auch aus meinem Leben entlassen.

Gebüsch und Malven

Ich musste, um weiterleben zu können, einen Himmel für meinen Bruder und all die andern Toten haben. Wenn ich sie da nicht versorge, lärmen und schepperen sie als Nörgelgeister durch meinen Alltag. Schon vor Francos Tod zogen sei, was sie an Freude und Glück in meinem Leben zu packen bekamen, in ihre Gruften hinunter. Was blieb mir also? Ich packte ich die Schubkarre an, warf, was ich an Trümmern und Steinen zu fassen bekam in ihre Mulde, und schob die Karre über schwankende Bohlen und ausgetretene Pfade zu meiner Baustelle. Ich baute aus meinen Trümmern Türme, die ich für Kathedralen hielt und schrieb aus ihnen Kurzgeschichten, die ich jetzt zwischen zwei Buchdeckel bringen will. Jetzt sehe ich, dass diese Baustelle sich kaum von der Wildnis unterscheidet, in der sie liegt. Gebüsch und Malven sehe ich, den Himmel sehe ich, einen Ort zum Verschwinden und immer Sein.