Adrian Soller, Fotos: Luca Bricciotti

Sechs Sekunden aus dem Leben der Leichtathletin Nicole Zihlmann.

Den Kopf leicht zur Seite geneigt schaut sie ihm nach, einundzwanzig, zweiundzwanzig, steht regungslos da, wie meistens, nachdem sie den Wurfhammer mit einem leisen Pfiff losgelassen hat. Vielleicht kommt es nun doch noch gut. Vielleicht fliegt der Hammer bei diesem Wurf endlich, wie er fliegen soll, nämlich weit, um die sechzig Meter wäre nicht schlecht, oder sogar ein paar Meter mehr. Einmal wieder an der eigenen Bestmarke kratzen täte ihr jetzt gut.

Dieses Mal jedenfalls löst sie ihren Blick nicht frühzeitig vom fliegenden Wurfgerät, dieses Mal jedenfalls scheint sie Kugel und Draht nachschauen zu wollen. Und das ist, vielleicht, ein gutes Zeichen. Denn Nicole Zihlmann weiss normalerweise schon im Moment, in dem sie den Trainingshammer loslässt, ob es ein weiter Wurf werden wird, oder eben nicht. Allzu oft hat sie das schon gemacht in ihrem Leben, drei Mal mit Schwung über den Kopf, vier Mal wie ein Zirkel um die eigenen Achsen, dann: loslassen.

Doch im Moment eben läuft es der erfahrenen Sportlerin nicht. Die letzten Trainingswürfe der 31-Jährigen waren allesamt unbefriedigend. Ausgerechnet jetzt fliegen sie nicht. Dabei müssten sie jetzt fliegen; wann, wenn nicht jetzt, drei Wochen vor der Schweizer Meisterschaft. Doch genau wie letztes Jahr schon, vermag sie auch dieses Jahr so kurz vor dem Saisonhöhepunkt nicht so richtig auf Touren zu kommen. «Wieso wüssä mer nöd», erklärte die Schweizermeisterin vor dem Wurf noch und meinte mit «mer», sich – und ihren Trainer Guido.

Guido sitzt neben der Wurfanlage im Bürostuhl und raucht Kette. Auch er lässt das fliegende Wurfgerät dieses Mal nicht vorzeitig aus den Augen. Vielleicht wirklich ein gutes Zeichen. Denn auch er erkennt «än guetä Hammer» natürlich schon früh, sowieso bei Nicole. Denn Guido und Nicole kennen sich gut, sehr gut sogar. Seit vierzehn Jahren sehen sie sich fast täglich. Längst wissen sie von den Macken des anderen, manchmal nerven sie sich gegenseitig. Er redet dann zu viel oder sie ist unkonzentriert. Aber alles in allem arbeiten sie gut zusammen, sehr gut sogar. Und das eigentlich von Anfang an.

Nicole strahlte als Kind oft über beide Backen. Ihre ältere Schwester Carmen spielte Klavier, sie wollte lieber Sport machen, mochte Action, Leichtathletik, Volleyball, irgendwas, das «fägt». Zum Hammerwerfen kam sie per Zufall. Man erklärte ihr, dass es beim Hammerwerfen keine Limite für die Schweizermeisterschaften brauche, jede könne mitmachen. Also machte sie mit – und schleuderte den Hammer an der Schweizermeisterschaft der Junioren auf Anhieb schon um die dreissig Meter, nicht schlecht. Sie war fünfzehn, sie habe Talent, hiess es dann. Und nach dem Wettkampf schickte man sie dann eben zu Guido. Er soll sie «mol aluegä». Hallo, i bi d Nicole, nei, nöd Nadine, Nicole. Froit mi, i bi dr Guido. I weiss. Und die Dinge nahmen ihren Lauf.

Nicole und Guido. Sie verfolgen beide nun die Flugbahn des Hammers. Er fliegt steil, dreiundzwanzig, gewinnt recht schnell an Höhe. Das könnte passen, endlich wieder einmal. Vor dem Trainingswurf munterte Guido seine Lieblingsathletin jedenfalls noch auf. Er lobte ihren letzten Wurf trotzt fehlender Weite. «Suuubere Fuess», sagte er. Denn immerhin passte die Fussstellung. Nicole hatte ihre Fussballen, auf denen ihr ganzes Körpergewicht lastete, exakt zum richtigen Zeitpunkt zur Seite abgedreht, das Gewicht gut verlagert. Die Augen und der Kopf hingegen stimmen noch nicht, das zeigte die Videoanalyse mit dem iPhone. Nicoles Blick war bei der zweiten Drehung noch vor der Kugel, nicht an ihr dran. Und vor allem: «dä Speed hät gfehlt».

Nach diesem Wurf wird Guido vielleicht neben der Wurftechnik auch wieder einmal die Weite loben können. Ein paar weite Würfe jedenfalls wären jetzt wieder wichtig. Vergangenes Jahr hatte Nicole zur selben Zeit eine Trainingskrise. Sie kam damals schon nicht auf Touren, dachte ans Aufhören, das denkt sie seit ein paar Jahren sowieso regelmässig. Immer wieder fragt sie sich, ob «Ufwand und Ertrag würli ufgönd», ob sich das alles lohnt. Hätte sie vergangenes Jahr dann nicht im entscheidenden Moment doch noch aufgedreht und ihre eigene Bestmarke an der Schweizermeisterschaft doch noch um zwanzig Zentimeter überboten, wäre sie zurückgetreten. «Mä», wird sie später sagen, «mä investiert halt ebä scho viel.»

Acht Mal in der Woche trainiert sie hier auf der Luzerner Allmend. Sie trainiert jeden Abend – und an einem Donnerstag, wie heute, sogar zweimal. Nicole hat kaum je einen freien Abend, Sonntag vielleicht, wenn kein Wettkampf ist. Freunde kommen zu kurz, für einen Partner hat sie keine Zeit. Nicole verlässt das Büro jeweils (sie arbeitet als Treuhänderin) am frühen Nachmittag und geht dann trainieren. Schlafen. Arbeiten. Trainieren. Allzu interessant sei ihr Leben nicht, sagt sie den Journalistinnen und Journalisten der Lokalblätter jeweils, wenn sie sie danach fragen.

Die Sonne brennt. Ein hastiger Atemzug, Guidos Zigarette glimmt auf, vierundzwanzig. Es ist noch nicht mal zehn Uhr und schon 21 Grad. Manchmal fällt es Nicole schwer, sich zu motivieren. Nicht nur dass es eben viel Aufwand ist, sie hat in der Schweiz auch keine Gegnerin. Immer tritt sie nur gegen sich selber an. Denn wenn Nicole in der Schweiz antritt, gewinnt sie normalerweise. Seit dem Jahr 2008 ist die achtfache Schweizer Meisterin an nationalen Meisterschaften ungeschlagen. Die nächste Konkurrentin liegt acht Meter zurück. Bei jedem Wurf geht es Nicole darum, ihre eigene Bestmarke zu überbieten, noch ein paar Zentimeter rauszuholen. Sie investiert Stunden und Tage für ein paar Zentimeter hier, ein paar dort; Erste bleibt sie sowieso, in der Schweiz wenigstens.

Doch obwohl Nicole Zihlmann in der Schweiz klar die Beste ist, verdient sie mit Hammerwerfen kein Geld, zu wenig populär ist der Sport, sowieso bei den Frauen. Im Gegenteil: 30 000 Franken im Jahr kostet sie das Hammerwerfen; ihr Verein, Leichtathletik Club Luzern, beteiligt sich etwas an den Kosten, mehr auch nicht. Und in etwa so viele Meter, wie Nicole in der Schweiz ihren Konkurrentinnen abnimmt, fehlen ihr an die Weltspitze. In Deutschland ist Nicole Zihlmann gerademal im Mittelfeld. Die Qualifikation für die Europameisterschaft verpasste sie bisher immer. Vielleicht klappt es nächstes Jahr endlich. Verdient hätte sie es. 68 Meter bräuchte sie. Und ein guter Trainingswurf gäbe ihr jetzt Hoffnung.

Der Hammer jedenfalls erreicht nun, fünfundzwanzig, seinen höchsten Punkt. Während Nicole der Kugel hinterherschaut, tippt sie mit der Schuhspitze leicht auf den Boden. Sie wird später sagen, dass sie gerne ihrem Wurfgerät hinterherschaue, dass sie genau das besonders fasziniere. Und dass es neben den vielen Zweifeln natürlich auch viele wunderschöne Sportmomente gebe.

Und dass es ein schönes Gefühl war, im Sommer 2013, als der Hammer vor heimischem Publikum (Carmen war da, ihre Cousine mit den Kindern und viele Leute vom Verein) flog und flog, immer weiter, exakt 61,54 Meter weit. Rekord. Rekord. Nicole Zihlmann. Die Leute klatschten und jubelten ihr zu. Es war Schweizer Rekord. Heute während dem Training ist es ganz leise, nur ein paar Autos sind zu hören und die kreischenden Raben auf den Bäumen beim Restaurant neben dem Trainingsgelände. Und dann, plötzlich, es fehlen nur noch wenige Meter bis Kugel und Draht auf dem Trainingsrasen des FC Luzern aufschlagen werden, dreht sich Nicole ab, sechsundzwanzig, senkt den Blick. Wieder nichts. Die Kugel wird schon wieder weit hinter ihrer Bestmarke landen, schon wieder kein weiter Schuss, schade. Der Kopf, die Schulter, der Speed stimmen noch nicht. «Gueti erschti Drehig, scho guet», sagt Guido. Drei Wochen noch bis zur Meisterschaft.


edition ERNST
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